Eine Revolution der Dinosaurier-Systematik?

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Vor einigen Tagen ging in der renommierten Fachzeitschrift „Nature“ ein neues Paper online, welches das Zeug hat, den gesamten Sektor der Dinosaurierforschung zu erschüttern. Baron et al. (2017) stellt nichts weniger als die gesamte grundsätzliche Dinosaurier-Systematik auf den Kopf, was weitreichende Implikationen für unser Verständnis von Evolution und Paläobiogeographie sowie die Interpretation der oft bruchstückhaft belegten basalen Vertreter der Dinosaurier hätte. Die neue Studie schlug in der Fachcommunity ein wie eine Bombe und wird derzeit heftig diskutiert. Aber was ist davon zu halten? Auf der Suche nach Antworten und einer Einschätzung hat sich Stefan Reiss das Paper angeschaut, durch die Supplementary Information gewühlt, frühere Veröffentlichungen konsultiert, die Debattenbeiträge auf verschiedenen Paläo-Blogs durchgelesen und mit persönlichen Kontakten in Fachkreisen gesprochen.

Jeder, der sich auch nur ansatzweise mit Dinosauriern befasst, wird sie kennen, die klassische Zweiteilung dieser Gruppe. Sie steht so in jedem Buch über diese Tiere: Es gibt die Saurischia oder Echsenbeckensaurier und die Ornithischia oder Vogelbeckensaurier. So haben wir es alle gelernt, so ist es seit Jahrzehnten Konsens. Die Namen gehen natürlich auf die grundlegende Struktur des Beckengürtels dieser Tiere zurück: Das Darmbein (Ilium) stellt die Verbindung zur Wirbelsäule dar (wie bei allen Landwirbeltieren), das Sitzbein (Ischium) ist nach hinten gerichtet. Doch das Schambein (Pubis) ist bei den Saurischiern nach vorne gerichtet, wie es auch bei anderen Reptilien der Fall ist. Bei den Ornithischiern dagegen ist das Schambein nach hinten gerichtet, parallel zum Sitzbein, ähnlich wie bei den heutigen Vögeln. Diese Unterscheidung wurde zum Mantra, auch wenn man sich mit der Zeit an einige Ausnahmen gewöhnen musste: manche Raubsaurier (Theropoda), die zusammen mit den Sauropodomorphen (zu diesen gehören unter anderem die langhalsigen klassischen Sauropoda) traditionell die Saurischier bildeten, besaßen ebenfalls ein nach hinten gerichtetes Schambein. Dies war der Fall bei jenen Theropoden, die auf der Stammlinie zu den heutigen Vögeln liegen – weshalb die Vögel überhaupt ein ähnliches Becken wie die Ornithischier besitzen. Diese Ähnlichkeit war eine reine Konvergenz. Zum Glück gründete sich diese Zweiteilung der Dinosaurier nicht nur auf das Becken, es gab auch noch andere Merkmale, die die Ornithischier charakterisierten – und natürlich fanden sich auch weitere Merkmale, die Theropoden und Sauropodomorphen als Saurischier zusammenführten.

In der neuen Studie von Baron et al. wird eben diese klassische Zweiteilung der Dinosaurier in Frage gestellt. In ihrer neuen Phylogenie kommt ein komplett anderes Muster heraus. Die Ornithischia als solche gibt es noch, allerdings werden sie nun als Schwestergruppe der Theropoda dargestellt und beide zusammen bilden die neue Gruppe der Ornithoscelida. Die Sauropodomorpha stehen allein, sieht man davon ab, dass die Herrerasauridae als ihre Schwestergruppe herausgekommen sind. Beide zusammen wären die verbliebenen Saurischia. Saurischia und Ornithoscelida zusammen bilden demnach die Dinosauria, auf deren Stammlinie sich noch eine Reihe basaler Formen von zum Teil unsicherer Position finden. Dieser neue Stammbaum widerspricht der seit fast 100 Jahren fest etablierten Lehrmeinung. Entsprechend heiß wird dieses Ergebnis nun diskutiert. Sollte es sich bestätigen, hätte dies weitreichende Implikationen für das Verständnis der Evolution verschiedener Merkmalskomplexe innerhalb der Dinosaurier: Die Federn, das an die Lungen angeschlossene Luftsacksystem und anderes. Auch die frühe Evolution der verschiedenen Dinosaurierlinien in der Trias müsste ganz anders betrachtet werden.

Nun gilt der Grundsatz, dass außergewöhnlich weitreichende Behauptungen – und um eine solche handelt es sich, da dieser neue Stammbaum die ganze Dinosaurierforschung der letzten Jahre auf den Kopf stellt und alle bisherigen Lehrbücher zu der Gruppe auf einen Schlag in einer zentralen Frage nicht mehr aktuell wären – auch außergewöhnlicher und solider Belege bedürfen. Also: Ist das hier der Fall? Was ist davon zu halten? Es folgt eine Spurensuche, etwas umfangreicher als die sonstigen Beiträge hier.

Historischer Hintergrund. Zunächst einmal lohnt es sich, einen Blick auf die Wissenschaftshistorie der Dinosaurier-Systematik zu werfen. Die Zweiteilung der Dinosaurier in Saurischia und Ornithischia war nicht immer in Stein gemeißelt. Der Begriff Dinosauria wurde bekanntlich von Richard Owen in den 1840ern populär gemacht. Erst während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden nach und nach die verschiedenen Großgruppen innerhalb der Dinosaurier erkannt. Schon 1870 schlug Huxley tatsächlich den Begriff Ornithoscelida für einige Dinosaurier vor, die vogelartige Merkmale in sich vereinten, soweit man das beim damaligen Kenntnisstand sagen konnte. Dabei warf er tatsächlich Gattungen in einen Topf, die heute den Ornithischiern und den Theropoden zugeordnet werden. Es war Seeley, der 1887 die Unterteilung, die sich schließlich durchsetzen konnte, vorschlug – also in Saurischia und Ornithischia. Wobei die Theropoden dann eben die Schwestergruppe der Sauropoden-Linie (Sauropodomorpha) wurden und die Ornithischier wesentlich isolierter im Stammbaum waren. Über weite Teile des 20. Jahrhunderts wurden Saurischier und Ornithischier für so unterschiedlich gehalten, dass man sie für zwei völlig unabhängige Entwicklungslinien hielt und den Begriff Dinosaurier eigentlich nur noch zu PR-Zwecken und nicht mehr als taxonomischen Begriff nutzte. Erst seit den 1980er Jahren begriff man die Dinosauria wieder als monophyletische Gruppe, in der die Saurischier und Ornithischier einen gemeinsamen Ursprung haben. Die Sichtweise auf die Dinosaurier als eine Gruppe, die alle Nachfahren eines gemeinsamen Vorfahren umfasst (inklusive der Vögel), gilt inzwischen als gefestigt und wird kaum noch angefochten. Wie die neue Studie zeigt, gilt dies aber nicht für die interne Systematik der Gruppe.

Gewisse Verwerfungen für die Systematik innerhalb der Dinosaurier wurden schon früher verschiedentlich diskutiert. Dass manche anatomische Details der Ornithischier auch bei anderen basalen Dinosauriern vorkommen, gehört im Grunde zu den durchaus bekannten Tatsachen. Dies wurde zum Beispiel bereits durch Butler et al. (2007) und Butler et al. (2008) in ihrer Phylogenie der Ornithischia thematisiert.  Seitdem wurde die Ornithoscelida-Idee durchaus immer mal wieder informell zwischen den Kollegen gesprochen – sich dieser Idee anzunehmen lag quasi seit einigen Jahren doch in der Luft.

Nun stellt sich speziell die Frage neu, ob die Theropoden die Schwestergruppe der Sauropodomorpha sind (Saurischia-Konzept) oder der Ornithischia (Ornithoscelida-Konzept). Die erstere traditionelle Sicht wurde zuletzt unter anderem in einer Arbeit von Nesbitt (2011) gestützt, der für die Saurischia in der gewohnten Zusammensetzung 18 unterstützende Synapomorphien (gemeinsame Merkmale) fand, darunter 10 Merkmale, die es auch bei anderen Archosauriern (der Gruppe aus Krokodilen, Dinosaurier, Vögeln und ausgestorbenen Verwandten) so gut wie nie in dieser Ausprägung gibt und die dadurch von besonderer Güte sind.  Baron et al. (2017) führen dagegen an, dass die Ornithoscelida in ihrer Analyse durch 21 unzweifelhafte Synapomorphien unterstützt werden. Davon können 6 Merkmale aber auch bei verbliebenen Saurischiern (Sauropodomorpha und Herrerasauridae) konvergent vorkommen.

TraditionellesKladogramm

Der traditionelle Stammbaum der Dinosaurier. Quelle: Darren Naish; blogs.scientificamerican.com

Was haben Baron et al. anders gemacht? Rein von den Anzahlen der Merkmale her lässt sich also kaum einschätzen, welches Modell wirklich besser unterstützt ist. Es stellt sich die Frage, was Baron et al. anders gemacht haben als frühere Studien. Nach eigener Aussage haben sie ein neues Datenset aufgesetzt und daraus eine neue Matrix für die phylogenetische Analyse gebildet. Aus kodierten Merkmalen in der Literatur und aus neu codierten Merkmalen aus eigener Beobachtung erstellten sie so eine vorher nicht erreichte Datenmenge, zumindest wenn man Studien mit ähnlicher Zielsetzung in Betracht nimmt: für 74 verschiedene Arten (darunter besonders viele, die dem Ursprung der Dinosaurier und deren Hauptlinien nahestehen) wurden 457 Merkmale kodiert. Dabei fanden auch Merkmale Eingang, die man in früheren Studien als Konvergenzen oder ursprüngliche Merkmale (Plesiomorphien) der Dinosaurier-Linie „wegdiskutierte“.  Diese Merkmale erfuhren also eine neue Bewertung.

Ein solches Vorgehen ist durchaus legitim. Mehr Merkmale zu kodieren für möglichst viele Arten einer zu untersuchenden Gruppe kann – richtig angewendet – bedeutenden Mehrwert an Information bringen. Auch ist der Fokus auf basale Arten einer Linie dabei nicht grundlos. Gerade an der Basis einer Linie treten deren charakterisierende Merkmale häufig am klarsten in Erscheinung. Baron et al. versicherten außerdem, bei der Kodierung und bei jedem Analyse-Schritt höchste Sorgfalt walten gelassen zu haben. So hätten sie zum Beispiel als problematisch bekannte Arten wie Pisanosaurus in Probeanalysen rausgenommen, um zu sehen, wie sich dann der Stammbaum ändert. Das Ergebnis sei aber das gleiche geblieben. Auch die Gewichtung einzelner Merkmale haben sie in den Supplementary Informations ausgiebig begründet.

Folgen für das Verständnis der Dinosaurier-Evolution. Aus dem nun veröffentlichten Ergebnis ergeben sich einige neue interessante Muster, die die Autoren diskutieren. Sie verweisen darauf, dass ihre Studie zeigt, wie sehr unser Verständnis der Merkmalsverteilungen bei den basalen Vertretern der Dinosaurier verbessert werden muss. Nach Ansicht der Autoren schlüsselt ihr Ornithoscelida-Konzept dieses besser auf. Auch die Biogeographie der Dinosaurier könne nun ganz anders verstanden werden. Ihre Studie verweise eher auf einen Ursprung der Dinosaurier auf der Nordhalbkugel anstatt wie bisher angenommen auf der Südhalbkugel. Vor allem aber, würde zu ihrem Ergebnis gut passen, dass an Protofedern erinnernde Filamente bisher nur bei Theropoden und Ornithischiern, aber nicht bei Sauropodomorphen gefunden wurden. Wenn Theropoda und Ornithischia zusammen die Ornithoscelida bilden, könnten diese Filamente und damit auch die Federn ein gemeinsames Merkmal dieser Gruppe sein. Und das würde zum bisherigen Fossilbericht gut passen. Allgemein erwecken die Autoren der Studie den Eindruck, dass sich viele Fragen der Dinosaurier-Evolution mit ihrem Ergebnis viel leichter interpretieren und verstehen lassen. Soweit die Studie. Im Folgenden werden einige Punkte beleuchtet, die eher die Probleme der neuen Studie aufzeigen.

NeuesKladogramm

Der von Baron et al. (2017) neu vorgeschlagene Stammbaum der Dinosaurier. Quelle: Darren Naish; blogs.scientificamerican.com 

Problemfeld 1: Taxa-Auswahl und Kodierung. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass Baron et al. zumindest aus ihrer Sicht sehr sorgfältig vorgingen. Nicht nur, dass mit David Norman und Paul Barrett namhafte und erfahrene Dinosaurier-Forscher mit im Boot waren – es ist auch so, dass man sich als involvierter Autor ohnehin immer so sieht. Es gibt vermutlich kaum einen Forscher, der etwas veröffentlicht, bei dem er selber glaubt, es einfach nur hingerotzt zu haben. Subjektiv glaubt man immer, sorgfältigst gearbeitet zu haben. Was zählt ist aber das objektive Ergebnis und nur dieses können andere Forscher beurteilen. Objektiv betrachtet gibt es immer Fehler. Dies gilt erst recht für Matrizen für phylogenetische Analysen mit hunderten kodierten Merkmalen. Einer der Paläontologen, mit denen ich sprach, drückte es so aus: „Wenn da 30 % Fehler sind, ist es eine der besten Matrizen.“ Die Frage ist dann, wie groß die Wirkung der Fehler ist. Sie kann zu vernachlässigen sein. Aber so ungefähr jeder mit der Materie vertraute Bearbeiter kennt die Beispiele, wo es furchtbar daneben ging. Ich selber habe mal einen Stammbaum gesehen, bei dem die Fruchtfliege als Schwestergruppe des Menschen innerhalb der Säugetiere herausgekommen war.

Probleme treten allgemein in der Auswahl der für die Analyse aufgenommenen Arten und der Merkmalskodierung auf. Bei der Menge der kodierten Merkmale wird es vermutlich einige Zeit brauchen, sich für die neue Studie einen kompletten Überblick zu verschaffen und vor allem einzuschätzen wie groß die Fehlerwirkungen sind.  Aber einige Punkte wurden bereits jetzt auf verschiedenen Blogs diskutiert, und mir auch von befreundeten Forschern persönlich genannt. Tatsächlich sind Baron et al. auf diesem Feld Schnitzer unterlaufen, die vermutlich noch Gegenstand von Debatten werden. Ich möchte drei Beispiele geben:

  1. Zum Beispiel wurde Zupaysaurus rougieri für die Matrix anhand von Literaturangaben kodiert. In der aufgeführten Literatur dazu wird eine Quelle von 1990 genannt. Das Problem: Die Art wurde erst 2003 beschrieben und in der angeführten Quelle von 1990 wird sie folglich gar nicht behandelt, auch nicht das zugrundeliegende Fundstück. Man fragt sich also, was hier kodiert wurde.
  2. Für Procompsognathus triassicus werden von Baron et al. Schädelmerkmale kodiert. Allerdings wurde schon 1992 gezeigt, dass das ursprüngliche Fundmaterial von Procompsognathus triassicus ein Komposit aus wenigstens zwei Tieren ist und das Schädelmaterial eher von einem Krokodil als einem Dinosaurier stammt. Ironischerweise wird genau die Arbeit von 1992 von den Autoren zitiert.
  3. Als Charakter 457 werden filamentartige Hautstrukturen kodiert, zum ersten Mal überhaupt. Dieses Merkmal zielt auf die Protofedern und potentiellen Protofedern ab, die man von Theropoden und manchen Ornithischiern kennt. Als Merkmalszustand verfügbar sind in der Matrix nur „vorhanden“ oder „fehlend“. Problematisch ist hierbei, dass diese Filamente stärker als jedes knöcherne Merkmal von der Fossilerhaltung beeinträchtigt werden. Die Sache ist da klar, wo sie erhalten und demzufolge vorhanden sind. Als „fehlend“ kann man sie aber praktisch nie sicher kodieren, da das „Fehlen“ ja auch nur auf schlechte Fossilerhaltung zurückgeführt werden könnte. Da muss man sich nur einmal daran erinnern, wie lange der Fossilbericht das Vorhandensein dieser Filamente bei Theropoden verschleierte. Es ist ein Merkmal, das man sicherlich gerne kodieren würde, bei dem man aber äußerste Vorsicht walten lassen sollte. Es wird sich zeigen müssen, wie stark speziell dieses Merkmal das Ergebnis der Studie beeinflusste. Fakt ist, dass ausgerechnet die beiden Dinosauriergruppen, für die Filamente nachgewiesen sind, als neue Schwestergruppen herauskommen und die Ornithoscelida bilden. Für die nun isolierter stehenden Sauropodomorphen sind bis heute keine Filamente nachgewiesen. Aber was heißt das in diesem Kontext schon? Fakt ist, dass niemand weiß, wie weit die Filamente im Stammbaum der Dinosaurier zurückreichen und wie homolog die Filamente bei Ornithischiern und Theropoden sind.

Allgemein führte die Fokussierung auf viele triassische und damit sehr basale Arten, wie erwähnt eigentlich durchaus sinnvoll, zu einem speziellen Problem: Gerade diese Arten, die für die Anfangszeit der Dinosaurier-Evolution so wichtige Informationen liefern könnten, sind häufig nur durch schlecht erhaltene oder fragmentarische Fossilien belegt. Deswegen sind sie häufig auch in phylogenetischen Analysen sogenannte „Springer“ oder „Wildcards“, die mal hier, mal dort im Stammbaum auftauchen. Einige dieser „Wildcards“ haben Baron et al. auch durchaus gesondert beachtet, mal versuchsweise aus der Analyse rausgenommen, um von ihnen ausgehende Effekte zu prüfen. Aber andere problematische Arten blieben in der Analyse. Wie stark dies das Ergebnis verzerrte, wird man noch prüfen müssen.

Problemfeld 2: Statistische Methoden. Zum Glück gibt es ja – eigentlich – statistische Methoden, die helfen sollen, die Verlässlichkeit eines aufgrund phylogenetischer Analysen erzeugten Stammbaums einzuschätzen. Folgende Begriffe kann man am einfachsten auf die vorliegende Studie anwenden: Parsimony, Bremer Support, Bootstrap und Consistency Index.

Parsimony: Das Prinzip der größten Sparsamkeit. Allgemein wird die Annahme akzeptiert, dass die realistischsten Stammbäume die wenigsten Schritte, sprich: Die wenigsten möglichen Merkmalsänderungen besitzen. Jeder zusätzliche Schritt müsste schon gut begründet sein. Daher sucht man immer nach den kürzesten Stammbäumen in einer Analyse. Aus diesen kürzesten Stammbäumen generiert man dann einen Konsens-Stammbaum. Das taten auch Baron et al. und ihr Stammbaum mit der größten Sparsamkeit zeigt eben die Ornithoscelida. Laut der Studie haben die Autoren getestet, um wieviel länger ein Stammbaum wäre, der das klassische Saurischia-Ornithischia-Konzept zeigen würde – 20 zusätzliche Schritte würde es dafür benötigen. Zumindest dieser Punkt könnte für das Ergebnis sprechen. Aber Parsimony ist nicht alles.

Bremer Support: Der Begriff ist etwas schwerer zu erklären. Etwas vereinfacht gesprochen lässt man hier die Analyse noch einmal laufen, nachdem man den optimalen Stammbaum ermittelt hat. Nur diesmal mit der Vorgabe, dass der Stammbaum einen Schritt länger sein sollte. Und dann prüft man, welche Knoten zwischen zwei Linien im Stammbaum sich durch diesen zusätzlichen Schritt auflösen, also kollabieren. Und das macht man wieder und wieder, immer mit einem Schritt mehr. Je länger ein Knoten durchhält, umso höher die Zahl des Bremer Support und umso verlässlicher ist der entsprechende Teil des Stammbaums. Baron et al. berufen sich gerade auf die guten Bremer Support-Werte in ihrem Stammbaum um zu zeigen, dass er solide ist. Für die Ornithoscelida kriegen sie vergleichsweise gute Bremer Support-Werte heraus, im Gegensatz zur traditionellen Alternative, für die laut den Autoren schlechtere Bremer Support-Werte herauskommen.

Potentielles Problem bei beiden Verfahren: Sie allein decken nicht zwingend begangene subtile Fehler in der Taxa-Auswahl oder der Kodierung auf. Nesbitt (2011) hatte in seiner Analyse auch den kürzest möglichen Konsens-Stammbaum verwendet und bekam für die klassische Saurischia-Ornithischia-Spaltung einen recht guten Bremer Support.

Bootstrap. Ein überaus wichtiges Werkzeug zur Einschätzung der Stammbaum-Verlässlichkeit. Hierbei wird aus der ursprünglichen Matrix eine Stichprobe von Taxa (im vorliegenden Falle wären es Arten) nach dem Zufallsprinzip genommen und aus deren Daten eine Matrix von gleicher Größe erstellt, die dann neu analysiert wird.  Im Grunde wird die Stichproben-Matrix also in ihrer Größe aufgebläht. Dieses Verfahren wird mindestens 100mal durchgeführt. Die Stammbaumverzweigungen, die bei diesem Verfahren am häufigsten auftauchen, sind die stabilsten und damit wahrscheinlich auch am besten unterstützt. Je höher der Bootstrap-Wert (von 0 bis 100), umso besser. Beim Bootstrap sollten sich – so die Überlegung – schlechte Kodierungen oder ein Mangel an Daten deutlicher bemerkbar machen. Daraus folgt aber auch: Je größer und besser die Datenlage, umso besser die Bootstrap-Werte. Wir erinnern uns jetzt mal daran, dass Baron et al. für sich in Anspruch nehmen eine bisher unerreicht gute Datenlage und Datenmenge für ihre Studie zu verwenden. Der Blick ins Paper zeigt, dass die Bootstrap-Werte aber durchaus durchwachsen sind. Zum Beispiel sind die Theropoden (in der Studie ohne Herrerasauridae, aber dafür mit Eoraptor dargestellt) nur durch einen Bootstrap von 57 gesegnet, mit zusätzlich schlechtem Bremer-Wert von 3. Ein Beispiel für bessere Werte sind die Ornithischia – Bootstrap ist hier 79, Bremer 4. Aber schon der Knoten für die Ornithoscelida hat einen niedrigeren Bootstrap von 66. Das ist schon recht durchwachsen. Die grundsätzliche Verzweigung in restliche Saurischia und Ornithoscelida an der Basis der Dinosaurier hat ebenso wie der Knoten von Sauropodomorpha und Herrerasauridae einen Bootstrap von unter 50, was eigentlich als ziemlich alarmierend gilt, egal was der Bremer Support dazu sagt. Man möchte sagen: Ein ernster Hinweis darauf, dass irgendwas faul ist. Trotz großer Datenbasis.

Consistency Index. Der CI ist ein Maß dafür, wie viele Konvergenzen in einem Kladogramm auftreten. In verfeinerter Form kennt man dann auch noch den „Rescaled consistency index“.  Je höher der Wert, der bis maximal 1,0 reicht, umso weniger Konvergenzen treten auf. Im Grunde genommen sind CI und RCI damit mit dem Parsimony-Konzept verwandt. Angesichts der komplexen Merkmalsverteilung gerade bei den basalen Arten einer Gruppe (hier: Der Dinosaurier), die nahe der ursprünglichen Verzweigung liegen, wären diese Werte für den Stammbaum von Baron et al. durchaus interessant. Aber: Sie geben diese Werte nicht an.

Dieser Abriss zeigt bereits, dass Baron et al. (2017) Fragen offen lassen, weshalb man ihren Stammbaum durchaus nicht unkritisch bewerten sollte.

Problemfeld 3: Die fehlerhafte oder fehlende Diskussion manche naheliegender Fragestellungen. Auch in der aus dem Stambaum resultierenden Interpretation und der Diskussion der daraus resultierenden Implikationen für das Verständnis der Dinosaurier-Evolution gibt es bei Baron et al. Verwerfungen. Wieder möchte ich das an drei Beispielen aufzeigen:

  1. Baron et al. vertreten die Auffassung, ihr Stammbaum würde die Merkmalsverteilung bei basalen Dinosauriern – egal ob Sauropodomorphen, Herrerasauriden, Theropoden oder Ornithischiern – besser erklären, als das bisher gängige Modell. Die Frage ist berechtigt ob das so stimmt. Es stimmt, dass es eine Reihe von Merkmalen gibt, die bei basalen Dinosauriern in einem scheinbar verwirrenden Muster verteilt sind, innerhalb jeder Linie mal vereinzelt auftauchen und dann wieder verschwinden. Solche komplexen Muster sind aber bei schnellen Radiationen an der Basis einer neuen Linie durchaus typisch – man kennt das zum Beispiel auch vom komplexen Merkmalsmosaik an der Wurzel der Vogellinie innerhalb der Theropoden. Teilweise handelt es sich dann um Konvergenzen zwischen mäßig nahe verwandten Arten, teilweise um Merkmale, die vom gemeinsamen Vorfahren ererbt wurden. Dies ist aber nichts wirklich Neues und gilt auch im Falle des traditionellen Saurischia-Ornithischia-Konzepts. Das komplexe Merkmalsmuster bei basalen Dinosauriern bleibt auch bei Baron et al. ein Mosaik, das man erst durch weitere Fossilfunde weiter aufschlüsseln kann. Denn eines macht solche komplexen Merkmalsmuster noch verwirrender: Ein unvollständiger Fossilbericht. Baron et al. zeigen vor allem eines: Auf der Basis des vorhandenen Fossilmaterials kann das beobachtete Muster an Merkmalen bei den basalen Arten auf mehr als ein phylogenetisches Konzept passen – je nachdem, bei welchem Merkmal man geneigt ist, es als Konvergenz oder Plesiomorphie zu betrachten und bei welchem nicht. Man wird da nur hoffen können, weitere Fossilien zu finden, die das besser auseinanderdröseln.
  2. Hier muss ich noch einmal die Sache mit den Filamenten aufgreifen. Auf den ersten Blick scheint das Ornithoscelida-Konzept super zur nachgewiesenen Verbreitung dieser Filamente (Theropoden und Ornithischier!) zu passen. Dies wird auch von Baron et al. thematisiert. Wie aber angeführt, ist dieses Muster womöglich durch die Mängel des Fossilberichts belastet. Außerdem ist die Homologie, also der gemeinsame Ursprung, der Filamente bei Theropoden und Ornithischiern noch keinesfalls zweifelsfrei nachgewiesene (auch wenn er naheliegend scheint). Um das Problem noch komplizierter zu machen: Pterosaurier haben auch filamentartige Hautstrukturen und ob diese Homolog zu jenen der Dinosaurier sind, ist ungeklärt. Bisher geht man davon aus, dass sie nicht Homolog sind, dass die Strukturen einen im Detail unterschiedlichen Aufbau haben. Aber wirklich auf Herz und Nieren geprüft wurde diese Ansicht noch nicht. Es besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass diese Strukturen homolog sind und die Unterschiede ein Erhaltungsartefakt. Dies harrt aber noch der Überprüfung. Angenommen die Pterosaurier-Filamente sind homolog, würde die Entstehung dieser Hautstrukturen im Stammbaum der Archosaurier weit nach unten rutschen – und für die Sauropodomorphen würde sich wieder die Frage stellen, warum man bei ihnen bisher keine Filamente nachweisen konnte. Das Problem, dass Baron et al. vermeintlich gelöst zu haben glaubten, würde sich wieder neu stellen. Und genau diese Möglichkeit wird von Baron et al. gar nicht vertieft, dabei zeigt gerade dies, wie wacklig der Boden bei diesem Themenkomplex immer noch ist!
  3. Die Pneumatisierung des Skeletts durch Luftsäcke spielt bei Baron et al. praktisch keine Rolle. Das Luftsacksystem, verbunden mit der Lunge, ist im Grunde ein eigener Organkomplex und Teil einer einzigartigen Atmungsweise, bekannt von Theropoden inklusive Vögeln und von Sauropodomorphen. Bei Ornithischiern hingegen wurde eine solche Pneumatisierung bisher in keinem Fall zweifelsfrei nachgewiesen – auch nicht bei basalen Formen, geschweige denn bei den höheren Verzweigungen der Gruppe. Deshalb galt dieser Organkomplex bisher als eine typische Entwicklung der Saurischia-Linie: An der Basis der Saurischia nahm die Ausbildung der Luftsäcke ihren Anfang und entwickelte sich danach in den beiden angenommenen Hauptlinien immer weiter fort – immer weitere Teile des Skeletts wurden „pneumatisiert“. So die Theorie. Im neuen Stammbaum von Baron et al. ist das alles hinfällig. Dieser Organkomplex würde bei ihnen unabhängig voneinander bei Sauropodomorphen und bei Theropoden auftauchen. Entweder wäre es dann also konvergent (nicht unmöglich, aber angesichts der Gleichartigkeiten der Ausprägung schon ein grandioser Zufall), oder aber es wäre ein ursprüngliches Dinosauriermerkmal, dass bei den Ornithischiern dann sekundär verloren gegangen wäre. Letzteres ist nicht unmöglich, es stellt sich dann aber die Frage, warum man nicht zumindest bei den basalsten Ornithischiern irgendeine rudimentäre Spur von Hohlräumen in den Wirbelknochen oder ähnliches findet. Es ist also ein Thema, dem man Beachtung schenken sollte, zumal ein solches Atmungs-und Luftsacksystem ein wesentlich grundlegenderes Organsystem darstellt als etwa die Filamente. Also: Was sagen Baron et al. zu dieser Fragestellung? Überraschend wenig bis gar nichts. In Form von zwei Merkmalen haben die Autoren das Vorkommen von Luftsäcken in den Halswirbeln gekodet und diese Merkmale sogar einer Gewichtung unterzogen, aber eine Diskussion über diesen Merkmalskomplex gibt es nicht, schon gar nicht in erschöpfender Breite – im Gegensatz zu den anderen hier genannten Themen. Angesichts der zentralen Bedeutung des Luftsack-Komplexes ist das mehr als erstaunlich und eine gravierende Auslassung, gerade weil den Autoren klar sein muss: Dieser Punkt wird einer der Hauptkritikpunkte an ihrem neuen Stammbaum darstellen.

KladogrammPneumaticity

Dieser Stammbaum verdeutlicht ein wenig die Problematik hinter dem Merkmalskomplex der pneumatisierten Knochen innerhalb der Archosaurier. Man kennt hohle und mit Luftsäcken durchsetzte Knochen von Pterosauriern, Theropoden und Sauropodomorphen. Zumindest für die beiden letzteren Gruppen konnte man im konventionellen Saurischia-Konzept annehmen, dass die Luftsäcke auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgingen. Damit wären die Luftsäcke in der Archosaurier-Gruppe der Ornithodira zweimal entstanden. Nach dem von Baron et al. (2017) nun vorgeschlagenen Konzept müsste man die Entstehung dieses Merkmalskomplexes dreimal annehmen: Bei Pterosauriern, Sauropodomorphen und Theropoden jeweils unabhängig voneinander. Dies wäre eigentlich zumindest für diesen Merkmalskomplex nicht im Sinne des Parsimony-Prinzips. Quelle: Naish, D. & Barrett, P.M. 2016. Dinosaurs: How They Lived and Evolved. The Natural History Museum, London. 

 

Fazit. Was sagt uns das alles?  Ist die Studie von Baron et al. (2017) wirklich die große Revolution der Dinosaurier-Systematik? Ganz ehrlich: Das ist noch nicht abzusehen. Sie startet sicherlich nochmal eine neue Diskussion darüber, welche Merkmale wie zu bewerten sind und auf der Suche nach Antworten dazu werden wohl in den nächsten Jahren einige sehr interessante Studien entstehen.  Das ist vom wissenschaftlichen Standpunkt aus grundsätzlich gut. Aber gerade deswegen wäre es auch verfrüht, jetzt alle alten Phylogenien für die Dinosaurier auf den Müllhaufen der Wissenschaftshistorie zu werfen. Es gibt jene, die das jetzt schon gerne tun würden – begeistert von der Neuheit des Konzepts. Es gibt aber auch die Stimmen derer, die da zu mehr Vorsicht mahnen.  Die Debatte hat gerade erst begonnen und noch gibt es kein wirkliches Übergewicht in die eine oder andere Richtung. Man wird wohl noch eine Weile mit dem bisher gängigen Konzept arbeiten, dabei aber das Gegenmodell aus der neuen Studie im Hinterkopf behalten.  Vor allem aber wird man auch die handwerklichen Fehler und Auslassungen von Baron et al. thematisieren müssen. Vermutlich wird es einige Wochen oder Monate dauern bis jemand nach eigenen Überprüfungen eine verlässliche Einschätzung geben kann, ob die Schnitzer im aktuellen Paper das verkündete Ergebnis kompromittieren oder vielleicht in ihrer Wirkung doch zu vernachlässigen sind. Es bleibt also spannend und man kann nur eines bleiben: In angemessener Weise skeptisch.

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mir wichtige Anregungen gaben, um mich in diese Sache hinein zu wühlen, allen voran J. Knüppe, H. Mallison und O. Rauhut.

Artikel

Baron, M. G., Norman, D.B. & Barrett, P.M. (2017), A new hypothesis of dinosaur relationships and early dinosaur evolution. Nature 543, 501-507.

Zusätzliche Quellen:

Butler, R.J., Smith, R.M.H. & Norman, D.B. (2007), A primitive ornithischian dinosaur from the Late Triassic of South Africa, and the early evolution and diversification of Ornithischia. Proceedings of the Royal Society B 274, 2041-2046.

Butler, R.J., Upchurch, P. & Norman, D.B. (2008), The phylogeny of the ornithischian dinosaurs. Journal of Systematic Palaeontology 6 (1), 1-40.

Nesbitt, S.J. (2011), The early evolution of Archosaurs: Relationships and the origin of major clades. Bulletin of the American Museum of Natural History 352, 292 pp.

 

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Pia Gaupels

Gründerin bei GeoHorizon
Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

Über Pia Gaupels

Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

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