Überschallgeschwindigkeit im Gestein: Erdbebenwellen sichtbar gemacht

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Erdbebenfrühwarnsysteme retten Menschenleben. Für eine realistische Einschätzung der Gefahr ist es nötig, die Dynamik der Quelle solcher Erschütterungen zu kennen. Die Forscherin Dr. Henriette Sudhaus und der Doktorand Andreas Steinberg von der Sektion Geowissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) konnten nun zusammen mit einem internationalen Forscherteam nachweisen, dass Erdbebenbrüche sich nicht nur in eine Richtung ausbreiten. Das Beben kann sich auch plötzlich umdrehen und schneller und stärker werden. Eine von Steinberg entwickelte Software macht diesen Effekt sichtbar.


Romanche-Beben lieferte ungewöhnliche Daten


Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht ein untermeerisches Erdbeben von 2016 in der sogenannten Romanche-Störungszone im Mittelatlantischen Rücken mit der Magnitude 7.1. Hier wurden von britischen Forschenden ungewöhnliche Daten mit Ozeanbodenseismometern aufgezeichnet. Die Messungen deuteten darauf hin, dass sich Erdbeben nicht nur gradlinig ausbreiten, sondern auch die Richtung ändern und sich sogar über die Schallwellengeschwindigkeit im Gestein hinaus beschleunigen können. Bislang war dies nur eine in der Fachwelt diskutierte theoretische Annahme. Um die Vermutung zu verifizieren sollten globale seismische Daten die lokalen Daten ergänzen. Für deren Auswertung brauchten sie weitere Expertise und wandten sich an Andreas Steinberg und Dr. Henriette Sudhaus vom Emmy-Noether-Projekt „Brückenschlag zwischen Geodäsie und Seismologie“ (BridGeS). Beide sind auch an der Erstellung eines am 10. August über die Untersuchung erschienen Artikels in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Geoscience“ beteiligt.


Bruchdynamik beeinflusst Gefährdungspotenzial


Für die Schäden, die Erdbeben anrichten, sind die Stärke und die Dauer der Erschütterungen ausschlaggebend. Diese werden wiederum durch den Bruchvorgang selbst im Gestein bestimmt. Besonders hohe Amplituden der Erschütterung haben die Scherwellen, eine Art der seismischen Wellen, die quer zur Ausbreitungsrichtung schwingen. Warum manche Erdbeben klein bleiben, und manche sich zu großen Schadensbeben auswachsen, ist nicht ausreichend erforscht. „Die nun vorliegenden Beobachtungen sind zum einen aus wissenschaftlicher Sicht sehr interessant, denn sie lassen auf die Eigenschaften der tektonischen Störung schließen, an welcher das Erdbeben entstand. Ein anderer wichtiger Aspekt ist jedoch die Relevanz, die eine solche Bruchdynamik für das Gefährdungspotential von Erdbeben hat“, fasst Dr. Henriette Sudhaus, die das Projekt BridGeS leitet, die Bedeutung ihrer Beobachtungen zusammen. 

Abbildung des Bruchvorganges und der Bruchrichtungsänderung aus seismischen Daten mithilfe der Rückprojektionsmethode 
(Animation: Andreas Steinberg, Uni Kiel)

Demnach entstehen bei Bruchgeschwindigkeiten von mehr als der Scherwellengeschwindigkeit im Gestein in bestimmten Gebieten starke Aufstapelungen der Wellen, ähnlich wie bei einem Überschallknall in der Atmosphäre. Zusammengenommen bieten beide Phänomene, Richtungswechsel und Überscherwellengeschwindigkeit, einen ungewöhnlichen und gefährlichen Mix, dem in Gefährdungsanalysen bisher nicht hinreichend Rechnung getragen wird. „Erdbeben dieser Größe sind nicht sehr häufig und unsere Statistiken über ihre Eigenschaften entsprechend schwach. Das Auftreten von ungewöhnlichen Bruchvorgängen und deren detaillierte Analyse stellen daher einen großen Informationsgewinn dar“, fügt Sudhaus hinzu.


Kieler Software bestätigt Vermutungen


„Mit einer in Kiel in Kooperation mit Professor Frank Krüger von der Universität Potsdam entwickelten Verfeinerung der Rückprojektions-Methode von Erdbebenwellen (seismic back projection), konnten wir bei der Bruchanalyse des Romanche-Bebens mit der innovativen Zusammenführung von globalen seismologischen Daten erstmals beobachten, dass die Ausbreitung des Bruches einen vollständigen Richtungswechsel vollführt. Zudem können wir bestätigen, dass der Bruch nach diesem Richtungswechsel mit einer seismischen Überschallgeschwindigkeit verläuft“, erklärt Dr. Henriette Sudhaus. Sichtbar gemacht wurde das Phänomen mithilfe eines in Kiel entwickelten Computerprogramms. „Ich habe für meine Dissertation eine Software entwickelt, welche den Bruchvorgang aus den seismischen Daten mithilfe der Rückprojektionsmethode abbildet“, berichtet Andreas Steinberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BridGeS. 

Lokalität des Romanche-Bebens im Mittelatlantischen Rücken und die modellierte Bruchfläche mit Bruchversatz sowie die verorteten Nachbeben. (Animation: Andreas Steinberg, Uni Kiel)

Ziel: Automatische Analyse


Anderen Forschenden steht diese Open-Source-Technologie frei zur Verfügung „und zur Bestätigung der Beobachtungen war die Rückprojektionsmethode besonders geeignet. Mit meiner Software und dank meiner Erfahrung im Umgang damit konnten wir die Kolleginnen und Kollegen bei ihrem spezifischen Problem sehr gut unterstützen. Bisher haben nur theoretische Überlegungen das Phänomen der Richtungsänderung bei Erdbebenbrüchen beschrieben. Wir haben es nun gemeinsam in einem internationalen Team nachweisen können“, erklärt Andreas Steinberg die Bedeutung der Veröffentlichung. Für die Zukunft könnte er sich vorstellen, dass die Analyse automatisiert verläuft. „Je besser wir vergangene Beben verstehen, desto besser kann ein Frühwarnsystem in einer bestimmten Region funktionieren“, ist sich Henriette Sudhaus sicher.


Veröffentlichung: Stephen P. Hicks, Ryo Okuwaki, Andreas Steinberg, Catherine A. Rychert, Nicholas Harmon, Rachel E. Abercrombie, Petros Bogiatzis, David Schlaphorst, Jiri Zahradnik, J-Michael Kendall, Yuji Yagi, Kousuke Shimizu & Henriette Sudhaus. Back-propagating supershear rupture in the 2016 Mw 7.1 Romanche transform fault earthquake. Nature Geoscience (2020), DOI-Nummer 10.1038/s41561-020-0619-9, abrufbar unter www.nature.com/articles/s41561-020-0619-9 

Quelle: off. Pm der Uni Kiel

Titelbildunterschrift: Modellierte Bruchfläche mit Bruchversatz sowie die verorteten Nachbeben.
(Ill.: Andreas Steinberg, Uni Kiel)


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Pia Gaupels

Gründerin bei GeoHorizon
Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

Über Pia Gaupels

Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

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