Selbst Tyrannosaurus rex hätte einen Bandscheibenvorfall erleiden können

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Die Bandscheiben sind die Bindeglieder zwischen den Wirbelkörpern und geben der Wirbelsäule ihre Beweglichkeit. Die Scheibe besteht aus einem knorpeligen Faserring und einem Gallertkern als Puffer. Seit jeher wurde angenommen, dass nur Menschen und andere Säugetiere Bandscheiben haben. Ein Irrtum, wie nun eine Forscherteam unter Federführung der Universität Bonn herausgefunden hat: Selbst Tyrannosaurus rex hätte einen Bandscheibenvorfall erleiden können. Die Ergebnisse sind nun im Journal “Scientific Reports” veröffentlicht.

Heutige Schlangen und andere Reptilien haben keine Bandscheiben, sondern ihre Wirbel sind mit sogenannten Kugelgelenken verbunden. Dabei ist die halbkugelförmige Seite eines Wirbelkörpers mit einer entsprechenden Einbuchtung des Nachbarwirbels verbunden, ähnlich wie bei einem menschlichen Hüftgelenk. Dazwischen befindet sich Knorpel und Gelenkschmiere, um das Gelenk beweglich zu halten. Diese evolutive Konstruktion ist gut für die heutigen Reptilien, denn sie verhindert so die gefürchteten Bandscheibenvorfälle, die durch Herausrutschen von Teilen der Bandscheibe in den Wirbelkanal entstehen.

„Dass die Reptilien in der Urzeit keine Bandscheiben hatten, konnte ich nicht glauben“, sagt die Paläontologin Dr. Tanja Wintrich von der Abteilung Paläontologie im Institut für Geowissenschaften der Universität Bonn. Ihr fiel auf, dass die Wirbelkörper der meisten Saurier denen des Menschen zum Verwechseln ähnlich sehen – also keine Kugelgelenke bilden. Deshalb stellte sie sich die Frage, ob inzwischen ausgestorbene Reptilien Bandscheiben hatten, diese aber im Laufe der Evolution durch Kugelgelenke „ersetzt“ haben.


Vergleich der Wirbel von Sauriern mit heute noch lebenden Tieren


Dafür untersuchte das Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Tanja Wintrich und unter Beteiligung der Universität Köln und der TU Bergakademie Freiberg sowie von Forschern aus Kanada und Russland insgesamt 19 unterschiedliche Saurier und heute noch lebende Tiere. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass Bandscheiben nicht nur bei den Säugetieren vorkommen. Für diese Untersuchungen wurden zusammenhängende Rückenwirbel der Wirbelsäule mit verschiedenen Methoden analysiert.

Überraschenderweise konnte Dr. Wintrich nun auch zeigen, dass fast immer noch Reste von Knorpel und sogar andere Teile der Bandscheibe in so alten Proben untersucht werden können – so auch bei Meeressauriern und Dinosauriern wie Tyrannosaurus. Dann verfolgte sie die Evolution der Weichteile zwischen den Wirbelkörpern auf dem Stammbaum der Landtiere, die sich schon vor 310 Millionen Jahren in die Säugetierlinie sowie die Saurier- und Vogellinie aufspalteten.

Dünnschliff durch einen Teil der Wirbelsäule eines Fischsauriers aus der frühen Jurazeit (180 Millionen Jahre alt) aus Holzmaden in Süddeutschland. Reste der Bandscheibe zwischen den Wirbeln sind sichtbar.
(Tanja Wintrich/Uni Bonn)

Bandscheiben sind mehrfach in der Evolution entstanden


Bisher unbekannt war, dass Bandscheiben ein sehr altes, ursprüngliches Merkmal darstellen. Die Befunde zeigen auch, dass Bandscheiben mehrmals in der Evolution bei verschiedenen Tieren neu entstanden sind und vermutlich zweimal bei Reptilien durch Kugelgelenke ausgetauscht wurden. „Warum die Bandscheibe ersetzt wurde, lässt sich vielleicht dadurch begründen, dass sie anfälliger für Schäden ist als ein Kugelgelenk“, sagt Dr. Wintrich. Trotzdem haben die Säugetiere Bandscheiben immer beibehalten, womit sich das bekannte Muster wiederholt, dass sie in ihrer evolutionären Flexibilität eher eingeschränkt sind. „Diese Erkenntnis ist auch zentral für das medizinische Verständnis des Menschen. Sein Körper ist nicht perfekt und seine Erkrankungen spiegeln unsere lange Entwicklungsgeschichte wider“, ergänzt der Paläontologe Prof. Dr. Martin Sander von der Universität Bonn.

Hinsichtlich der Untersuchungsmethoden bediente sich das Team nicht nur bei der Paläontologie, sondern genauso bei der medizinischen Anatomie, Entwicklungsbiologie und Zoologie. Mit einer Gesteinssäge zerlegte und dann sehr dünn geschliffene Saurierknochen zeigen unter dem Mikroskop vergleichbare Befunde wie Schnitte von fixiertem und eingebettetem Gewebe heutiger Tiere. So können die langen Zeiträume der Evolution überbrückt und Entwicklungsprozesse erkannt werden. Prof. Sander bemerkt: “Es ist wirklich erstaunlich, dass der Knorpel des Gelenks und anscheinend sogar die Bandscheibe selbst sich über hunderte Millionen Jahre erhalten kann.”

Dr. Wintrich, die inzwischen am Anatomischen Institut der Universität Bonn arbeitet, freut sich über die Zusammenarbeit der Fachrichtungen, die dieses übergreifende Verständnis erst ermöglicht hat: „Wir haben herausgefunden, dass sogar Tyrannosaurus rex nicht vor Bandscheibenvorfällen geschützt war.” Erst vogelartige Raubsaurier haben dann wieder Kugel- und Sattelgelenke entwickelt, wie sie bei den heutigen Vögeln vorkommen. Ebenso waren solche Kugelgelenke für die größten Dinosaurier, die Langhalssaurier, ein entscheidender Vorteil für die Stabilität ihrer Wirbelsäule.

Der Brückenschlag zwischen Paläontologie und Medizin ist wegweisend in Deutschland. Der an der neuen Studie nicht beteiligte Anatom Prof. Dr. Karl Schilling von der Universität Bonn berichtet: “In den USA sind dagegen Saurierforscher und Evolutionsbiologen oft eng in die ärztliche Ausbildung mit eingebunden, gerade auch in der Anatomie und Embryologie. Damit gewinnen junge Ärztinnen und Ärzte eine Perspektive, die gerade in einer sich immer schneller ändernden Umwelt immer wichtiger wird”.


Veröffentlichung: Tanja Wintrich, Martin Scaal, Christine Böhmer, Rico Schellhorn, Ilja Kogan, Aaron van der Reest & P. Martin Sander: Paleontological evidence reveals convergent evolution of intervertebral joint types in amniotes, Scientific Reports, DOI: 10.1038/s41598-020-70751-2

Quelle: off. Pm der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Titelbildunterschrift: Dünnschliff der Wirbelsäule im Lichtmikroskop der ältesten Meeressauriergattung Mesosaurus (290 Millionen Jahre) aus der Permzeit. Die bunten Farben entstehen durch polarisiertes Licht. (Foto: Tanja Wintrich/Uni Bonn)


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Pia Gaupels

Gründerin bei GeoHorizon
Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

Über Pia Gaupels

Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

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