Evolution der Hirsche: Regelmäßiger Geweihzyklus ist älter als bisher gedacht

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Eine neue Studie gibt Einblick in die frühe Evolution des Geweihzyklus bei Hirschen (Cervidae). Aufbau und Struktur der Geweihgewebe der ältesten bekannten fossilen Hirsche (ca. 12 bis 18 Millionen Jahre alt) waren denen heute lebender Hirsche verblüffend ähnlich. Offenbar mussten Hirsche schon von Anfang an mit dem periodischen Geweihabwurf leben – obwohl die regelmäßige Neubildung die Tiere viel Energie kostet. Experten für Paläohistologie und Wiederkäuer um SNSB-Paläontologin Gertrud Rößner haben die Ergebnisse veröffentlicht.

Männliche Hirsche (Cervidae) besitzen ein erstaunliches Regenerationsvermögen: Regelmäßig, in den gemäßigten Breiten sogar jedes Jahr, werfen sie ihr vollständiges Geweih ab und bilden während der darauffolgenden Monate ein komplett neues Geweih. Gesteuert wird dieser Geweihzyklus durch Hormone, die wiederum unter dem Einfluss der täglichen Menge der Lichteinstrahlung stehen, d.h. auch abhängig vom geographischen Breitengrad der Lebensräume sind. Ein Geweih besteht im Wesentlichen aus Knochengewebe und wächst aus den sogenannten „Rosenstöcken“ auf der Stirn der Hirsche.

Ältester Hirschschädel mit Geweih. Das Geweih ist einfach gegabelt, hat keine Rose und sitzt auf einem langen Rosenstock, der direkt über den Augen aus dem Schädeldach wuchs. SNSB-BSPG 1979 XV 555 Procervulus dichotomus.
(Foto: E.-M. Natzer)

Der regelmäßige Abwurf und vor allem die anschließende Neubildung von den, in vielen Arten, jährlich größer wachsenden Geweihen ist für Hirsche ein energetisch enorm aufwändiger Prozess, der nach biologischen Prinzipien nicht wirklich zu erklären war. Daher vermuteten Wissenschaftler bisher einen selektiven Vorteil darin, wenn Hirsche zeitweise Geweih-frei sind bevor unter hohem Energieaufwand das nächste Geweih für die Brunft regeneriert werden muss. Die Ergebnisse der neuen Studie deuten jedoch darauf hin, dass die Hirsche von Anfang an mit dem periodischen Geweihabwurf leben mussten und ihre Evolutionsgeschichte ständig dem Dilemma von einerseits physiologischen Kosten und andererseits Fortpflanzungserfolg unterworfen war.

Ein deutsch-schweizerisches Paläontologen-Team um PD Dr. Gertrud Rößner, Kuratorin für fossile Säugetiere an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG), hat in einer umfassenden Vergleichsstudie die frühe Evolutionsgeschichte des Geweihzyklus bei Hirschen erforscht. Das Ergebnis ihrer Untersuchungen hat die Paläontologen überrascht: Prozesse und Mechanismen von Abwurf und Neubildung im Geweihzyklus verliefen offenbar schon bei den frühesten Hirscharten vor 18 Millionen Jahren genauso wie bei heutigen Arten.

Frühes Geweih ohne Rose und mit Kronenform auf einem langen Rosenstock. SNSB-BSPG 1959 II 678 Lagomeryx parvulus.
(Foto: M. Schellenberger)

„Unsere Vergleiche geben einen detaillierten Einblick in die frühe Evolution der Geweihbildung. Aufbau und Struktur der fossilen Geweihgewebe waren denen heute lebender Hirsche verblüffend ähnlich. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass sich der Geweihzyklus, wie wir ihn von heutigen Hirschen kennen, in einem allmählichen Evolutionsprozess ausgehend von ursprünglich nicht abwerfbaren Geweihen und mit Übergangsstadien von ausnahmsweisen bis gelegentlichen Abwürfen entwickelt hat. Unsere Ergebnisse zeigen nun aber das Bild, eines Mechanismus, der seit Evolutionsursprung der Hirsche grundlegend ist,“ erklärt Gertrud Rößner von der BSPG.

Um die Entstehung dieses Kreislaufs besser zu verstehen, analysierten die Wissenschaftler*innen die Geweihe von 34 fossilen Hirschen aus dem frühen und mittleren Miozän von Europa (ca. 12 bis 18 Millionen Jahre alt), wovon viele aus Bayern stammen und an der BSPG in München aufbewahrt und wissenschaftlich untersucht werden. Unter den Fossilien befanden sich auch die bisher ältesten bekannten Geweihe aus dem frühen Miozän von Procervulus praelucidus (Bayern, Deutschland), Ligeromeryx praestans (Loir-et-Cher, Frankreich) und Acteocemas infans (Loiret, Frankreich). Die Forscher untersuchten hierfür viele Details des Knochengewebes wie z.B. Wachstumsmuster, Umbauprozesse und Auflösungserscheinungen mittels Mikro-Computertomographie und Dünnschliffmikroskopie. Anschließend verglichen Gertrud Rößner und ihre Kollegen die gewonnenen Daten mit Geweihgeweben moderner Hirsche.


Veröffentlichung: Gertrud E. Rössner, Loïc Costeur, Torsten M. Scheyer (2020) Antiquity and fundamental process-es of the antler cycle in Cervidae (Mammalia). The Science of Nature 108, 3 (2021). https://doi.org/10.1007/s00114-020-01713-x


Quelle: off. Pm der Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns


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Pia Gaupels

Gründerin bei GeoHorizon
Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

Über Pia Gaupels

Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

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