Tsunami-Frühwarnsystem für die Insel Kreta

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Seit Jahrzehnten arbeiteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Entwicklung und Verbesserung von Tsunami-Frühwarnsystemen. Mit effizienten Verfahren könnten Katastrophen wie der Tod von 280.000 Menschen (Lavigne et al., 2013) infolge des desaströsen Tsunamis im Indischen Ozean im Jahr 2004 verhindert werden. Auch der Mittelmeerraum ist von Tsunami-Ereignissen bedroht. Die Entwicklung von Frühwarnsystemen ist in dieser Region aufgrund der komplizierten tektonischen Situation eine besondere Herausforderung. Ein internationales Forscherteam stellt in einer neuen Veröffentlichung ein hypothetisches Tsunami-Frühwarnsystem für die Insel Kreta im östlichen Mittelmeerraum vor. Mit dessen Hilfe könnten nicht nur durch Erdbeben hervorgerufene Tsunamis, sondern auch durch Erdrutsche und Vulkanausbrüche ausgelöste Tsunamis rechtzeitig erkannt werden.

Tsunamis gehören zu den imposantesten und zugleich gefährlichsten Naturgewalten unserer Erde. Sie entstehen zumeist an den Kontaktbereichen von Kontinentalplatten, wo – angetrieben durch die Plattentektonik – gewaltige Spannungen herrschen. Überschreiten die Spannungen einen bestimmten Grenzwert, kann die Erdkruste ihnen nicht mehr standhalten. Die aufgestaute Energie entlädt sich in Form eines Erdbebens. Unter Umständen wird der Meeresboden dabei ruckartig angehoben, wodurch die Wassersäule über dem Erdbebenherd ins Schwingen gerät und sich in Form von Wellen in alle Richtungen ausbreitet – die Geburtstunde eines Tsunamis. Die immensen Kräfte von Tsunamis entfalten sich insbesondere in den Küstenbereichen. Hier wird das Wasser flacher, wodurch sich die Geschwindigkeit der anrollenden Wassermassen verringert. Aufgrund des Prinzips der Energieerhaltung türmen sich die Wellen dafür immer mehr auf. Beim Auftreffen auf die Küste können die Tsunamis kilometerweit ins Landesinnere dringen, dabei Häuser und Infrastrukturen zerstören sowie Menschen binnen weniger Sekunden in den Tod reißen.

Der östliche Mittelmeerraum ist durch eine Vielzahl von Plattengrenzen charakterisiert. Neben der Subduktion der Afrikanischen Platte unter die Eurasische Platte existieren kleine Platten wie die Anatolische Mikroplatte und die Ägäische Mikroplatte. Verschiedene Störungszonen, wie zum Beispiel der Hellenische Inselbogen – eine geologische Verwerfung, die aus der Subduktion der Afrikanischen Platte unter die Ägäische Platte hervorgegangen ist – umgeben die Insel Kreta (Abbildung 1). Die Folge dieses komplexen und kleinteiligen tektonischen Mosaiks sind hohe seismische Aktivitäten, welche die Entstehung von Tsunamis begünstigten. So kam es im Mittelmeer in der Vergangenheit immer wieder zu verheerenden Tsunami-Ereignissen. Beispielsweise verursachte das Amorgos Erdbeben in der Ägäis mit einer Momenten-Magnitude von Mw 7.7-7.8 im Jahr 1956 einen Tsunami, der die Nordküste Kretas flutete und Heraklion mit einer Höhe von 2 Metern erreichte. Im Jahr 2017 erschütterte das Bodrum-Kos Erdbeben die türkisch-griechische Grenze, infolgedessen ein Tsunami für Überschwemmungen auf der Insel Kos sorgte. Erst am 02. Mai 2020 verursachte ein Erdbeben der Magnitude Mw 6.6 südlich von Kreta einen kleinen Tsunami, der die Südküste Kretas ca. 15 bis 20 Minuten nach dem Erdbeben erreichte. Auch Vulkanausbrüche und Erdrutsche können Tsunamis auslösen. Zum Beispiel verursachte die Eruption des Thera-Vulkanes auf der griechischen Insel Santorini am 30. September 1650 einen Tsunami. Weil der Mittelmeerraum eine vergleichsweise kleine und eingegrenzte Region ist, erreichen die Tsunamis innerhalb kürzester Zeit die Küstenregionen. Die schnelle und präzise Vorhersage von Tsunami-Ereignissen ist aus diesem Grund von erheblicher Bedeutung.

Abbildung 1: Plattentektonische Situation im Mittelmeer. Aus Shellock, R. & Carpenter, A. (2015).

Ein internationales Forscherteam stellt nun ein hypothetisches Tsunami-Frühwarnsystem für die Insel Kreta im östlichen Mittelmeerraum vor. Die Basis des Frühwarnsystemes sind zwölf sogenannte „Offshore Bottom Pressure Gauges“ (OBPGs), welche rund um die Insel Kreta installiert werden (Abbildung 2). OBPGs messen die Höhe der Meeresoberfläche und leiten die Daten in Echtzeit weiter. Das Ziel ist es, mit Hilfe der OBPG-Messungen das reale Tsunami-Wellenfeld nachzubilden. Dafür nutzen die Wissenschaftler die Methode der Datenassimilation. Beispielhaft für den Meeresspiegel funktioniert die Datenassimilation folgendermaßen:
Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird mit den OBPGs die Höhe der Wasseroberfläche gemessen. Mit Hilfe eines physikalischen Modells wird die Höhe für den nächsten Zeitschritt vorhergesagt. Jedoch weicht der vorhergesagte Wert ggf. von dem beobachteten, gemessenen Höhenwert ab.
Deshalb wird die Differenz zwischen dem beobachteten und dem vorhergesagten Wert berechnet und der vorhergesagte Wert so korrigiert (d.h., assimiliert), dass er den beobachteten Wert möglichst gut annähert. Der korrgierte Wert wird dann erneut in das physikalische Modell eingefügt, um den Meeresspiegel für den folgenden Zeitschritt zu berechnen.
Die Datenassimilation wird für eine feste Anzahl an Zeitschritten innerhalb eines bestimmten Zeitraumes durchgeführt. Das Ergebnis ist ein aus den OBPG-Daten numerisch rekonstruiertes Wellenfeld, das die Vorhersage von Tsunami-Höhe und Ankunftszeit an der Küste ermöglicht. Damit die Tsunami-Warnung rechtzeitig erfolgen kann, befinden sich die OBPGs mindestens in einem Abstand von 50 km entfernt vor der Küste Kretas.

Abbildung 2: OBPGs (Dreiecke) und Tide Gauges (Kreise) sind dargestellt. Aus Wang et al., 2020 (Abbildung 3a).

Um diverse Auslösemechanismen von Tsunamis im Mittelmeer zu berücksichtigen, modellieren die Forscher drei Szenarien: Zunächst wird ein Erdbeben mit Epizentrum östlich von Sizilien in einer Entfernung von ca. 900 km von Kreta, simuliert. Das Erdbeben generiert einen Tsunami, der sich im östlichen Mittelmeerraum ausbreitet. Danach wird ein Tsunami als Folge eines submarinen Erdrutsches in den Kykladen modelliert. Zuletzt wird das Frühwarnsystem retroperspektivisch am realen Tsunami vom 02. Mai 2020 getestet. Für die Modellierung der drei Szenarien und für die Generation der synthetischen Tsunami-Daten werden verschiedene Programme verwendet. Das reale Tsunami-Wellenfeld vom 02. Mai 2020 wird dabei möglichst genau künstlich rekonstruiert. Die synthetischen Daten dienen bei der Datenassimilation jeweils als beobachtete, an den OBPGs gemessene Daten.

Um ihre Methodik zu validieren, vergleichen die Forscher die für die Küste vorhergesagten Wellenformen mit den tatsächlichen, dort beobachteten Wellenformen. Der Vergleich wird an fünf verschiedenen Standorten durchgeführt – dort, wo sich an der Küste Kretas Instrumente zur Messung des Meeresspiegels, die sogenannten Tide Gauges, befinden (Abbildung 2).

Die Wissenschaftler zeigen, dass das vorgeschlagene Frühwarnsystem die Ankunftszeiten und Höhen der ersten Tsunami-Wellen ca. 10 bis 20 Minuten vor Ankunft der Tsunamis zufriedenstellend vorhersagt. Die Vorhersagegenauigkeit mittels Datenassimilation liegt für den durch das Erdbeben generierten Tsunami bei 88,5 % (Abbildung 3). Bei dem durch den Erdrutsch ausgelösten Tsunami bilden die vorhergesagten Wellenformen nicht die hochfrequenten Anteile in den synthetischen Daten ab. Trotzdem liegt die Vorhersagegenauigkeit hier bei 87,3 % (Abbildung 4). Insbesondere sagt das Messsystem retroperspektivisch die Ankunftszeit und die Höhe der ersten Tsunami-Welle vom 02. Mai 2020 vorher. Zur Rekonstruktion des Wellenfeldes wurden die an der Tide Gauge NOA-04 aufgezeichneten Wellenformen verwendet. Trotz der geringen Entfernung des Epizentrums von der Insel Kreta und der damit einhergehenden geringen Laufzeit von ca. 20 Minuten kann 10 Minuten vor Ankunft des Tsunamis an der Tide Gauge NOA-04 gewarnt werden (Abbildung 5). Dies ist laut den Autoren der Studie ein wichtiges Ergebnis: Das vorgeschlagene Messsystem sei somit sowohl auf Tsunamis, die im Nahfeld generiert wurden, als auch auf im Fernfeld ausgelöste Tsunamis anwendbar. Die Wissenschaftler schlagen die Methode für andere gefährdete Regionen vor, so für das Ägäische Meer, die Türkei und – außerhalb des Mittelmeeres – Indonesien.

Abbildung 3: Links: Im Osten von Sizilien wird ein Erdbeben generiert. Gezeigt ist der Tsunami-Status zu verschieden Zeitpunkten nach der Herdzeit. Rechts: An den Tide Gauges vorausgesagte und aufgezeichnete Wellenformen. Aus Wang et al., 2020 (Abbildung 5a-d und 6).
Abbildung 4: Links: Tsunami-Status zu verschiedenen Zeitpunkten nach dem Erdrutsch-Ereignis in den Kykladen. Rechts: An den Tide Gauges vorausgesagte und aufgezeichnete Wellenformen. Aus Wang et al., 2020 (Abbildung 7a-d und 8).
Abbildung 5: Links: Modellierung des realen Tsunamis vom 02. Mai 2020 zu verschiedenen Zeitpunkten nach der Herdzeit. Rechts: An einer Tide Gauge vorausgesagte und aufgezeichnete Wellenformen. Aus Wang et al., 2020 (Abbildung 9a-d,f).

Veröffentlichung: Wang, Yuchen & Heidarzadeh, Mohammad & Satake, Kenji & Mulia, Iyan & Yamada, Masaki. (2020). A Tsunami Warning System Based on Offshore Bottom Pressure Gauges and Data Assimilation for Crete Island in the Eastern Mediterranean Basin. Journal of Geophysical Research: Solid Earth. https://doi.org/10.1002/essoar.10503350.1

Titelbildunterschrift: Wellen vor der Küste von Kreta. Quelle: radio-kreta.de.


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Pia Gaupels

Gründerin bei GeoHorizon
Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

Über Pia Gaupels

Pia Gaupels, *86, Bibliotheksinformationsstudium an der TH Köln von 2007-2010. Studiert seit 2014 an der Universität Münster Geowissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Planetare Geologie und Geoinformationswissenschaften. 2015 gründete Sie die Seite Geohorizon. Sie besitzt ausgeprägte Fähigkeiten in der Bild- und Videobearbeitung und arbeitet seit 2018 wieder als Bibliothekarin.

Ein Kommentar

  1. Sehr interessant! Obwohl ich kein Geophysiker bin, finde ich das sehr unterhaltend und ausgesprochen informativ. Vielen Dank an Autorin Regina Maass für den tollen Artikel ??️??

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